Mein Kind spielt und hat Spaß am Leben! – Interview mit Prof. André Frank Zimpel
…für solche Sätze feiern wir Prof. André Frank Zimpel. Wir trafen ihn neulich bei einer Veranstaltung in Hamburg – er hat uns beeindruckt und überzeugt. Darum haben wir die Gelegenheit genutzt, uns mit ihm zu unterhalten.
Ende Dezember veröffentlicht er das Buch „Spielen macht schlau“ im GU Verlag.
Holt euch einen Kaffee vorweg, dieser Weg wird kein kurzer sein. Dafür ist dieser Weg beruhigend und fair…
Wie kritisch sehen Sie frühkindliche Förderung? Was ist aus Sicht Ihrer Forschung der „Alptraum“?
Den Wert früher Bildungsangebote erkennen Sie an der Reaktion Ihres Kindes. Freut es sich schon auf den nächsten Termin? Ist es danach ausgeglichener und zufriedener als vorher? Greift es die Anregungen von allein im freien Spiel auf? Schließt es Freundschaften mit anderen Kindern? Ist es traurig, wenn Schluss ist? Doch Vorsicht: Kinder haben feine Antennen für Erwartungsdruck! Es könnte sein, dass Ihr Kind nur Ihnen zuliebe Interesse zeigt. Beobachten Sie die Reaktionen Ihres Kindes deshalb möglichst kritisch und frei von Wunschdenken. Vermeiden Sie Belohnungen für folgsames Mitmachen. Und reden Sie Ihrem Kind möglichst nichts ein: »Das war doch schön, oder?«, »Das hat dir doch richtig Spaß gemacht, oder etwa nicht?« Achten Sie außerdem darauf, dass genügend Zeit für das freie Spiel bleibt. Diese Zeit benötigen Kinder, um das Gelernte zu verarbeiten und mit ihren Bedürfnissen zu verbinden. Der Albtraum ist ein Bildungssystem, das Eltern vor die Alternative stellt: glückliche Kindheit oder Zukunft. So ist Zukunft keine Verheißung mehr, sondern eine Drohung.
Was heißt Förderitis in Ihrem Verständnis und was daran ist so falsch?
Die Erkenntnis der Hirnforschung, dass sich das menschliche Gehirn nutzungsabhängig entwickelt, führt bei vielen Eltern zu dem Fehlschluss, man müsse das Gehirn trainieren wie einen Muskel. Weil sie ihre Kinder für die globalisierte Welt fit machen wollen, haben sich viele Eltern einen gefährlichen »Virus« eingefangen: die Förderitis. Aus Angst, ihre Kinder könnten den Anschluss an eine globalisierte Bildungsgesellschaft verlieren, versuchen sie ihre Kinder auf jede erdenkliche Art zu fördern: Frühenglisch, Kinderyoga, Malkurse und Musikunterricht wechseln sich in einem straffen Zeitplan miteinander ab. Dabei übersehen sie, dass das soziale Umfeld die Hirnentwicklung viel mehr bestimmt als jedes Training. Man kann diese Eltern nicht oft genug ermutigen, das Spiel ihrer Kinder ernst zu nehmen.
Spielen ist für Sie die beste Fördermaßnahme überhaupt. Warum?
Spielen ist deshalb so wichtig, weil das menschliche Gehirn vor allem ein Sozialorgan ist, das sich durch Erfahrungen entwickelt. Kinder können besser »Nachäffen« als unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, denen wir genetisch immerhin zu mehr als 98 Prozent ähneln. Spielen ist also keine verschwendete Zeit, sondern die effektivste Form des sozialen Lernens. Nichts macht Kinder so klug wie das selbstvergessene, frei gewählte Spiel. Wenn Kinder beim Spielen in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen oder Alltagsgegenständen eine neue, spielerische Bedeutung verleihen, fördern sie dadurch ganz automatisch ihr abstraktes Denkvermögen. Diese Fähigkeit ist die wichtigste Voraussetzung, um später beispielsweise Naturwissenschaften und Fremdsprachen zu lernen. Gleichzeitig wachsen sie dabei spielerisch in die Erwartungen ihrer Umwelt hinein, das heißt, ihre soziale Kompetenz verbessert sich.
Spielen wird immer mit Freizeit gleichgesetzt – wer was werden will, der muss sich anstrengen. Stimmt das?
Selbst gewählte Kinderspiele sind immer ambitioniert. Kinder suchen sich aktiv Anforderungen, die am besten zu ihren Fähigkeiten passen. Kein Förderprogramm kann das leisten. In der internationalen Forschung spricht man hier vom »Goldilocks effect«. Das ist eine Anspielung auf das Märchen »Goldlöckchen und die drei Bären«: Goldlöckchen findet im Wald eine Hütte mit gedecktem Tisch. Ein Löffel ist zu groß, der andere zu klein und der dritte genau richtig, ein Brei ist ihr zu heiß, der andere zu kalt – aber der dritte ist genau richtig. Damit ist gemeint: Spielende vermeiden geschickt Über- und Unterforderung. So optimieren Kinder spielerisch das Lernen: Sie suchen sich aktiv Anforderungen, die sie wirklich weiterbringen. Das kann kein standardisiertes Förderprogramm leisten.
Wie hängen Spielen und Fantasie zusammen und was hat das mit den Grundlagen zum natur- oder geisteswissenschaftlichen Denken zu tun?
In Als-ob-Spielen beginnen Kinder, ihre Welt zu deuten. So tun als ob ist eine verblüffende Leistung kindlicher Gehirne: eine Befreiung des Denkens von der unmittelbaren Wahrnehmung. Kurz: die Fähigkeit zur Abstraktion! Die Unterscheidung zwischen Spielwelt und Alltag ist ein Schlüssel für die gesamte Sprachentwicklung: Das, worüber man gerade redet, muss nicht hör-, sicht- oder greifbar sein. Im Spiel darf es auch eine abstrakte Vorstellung sein, die zur Sprache kommt. Das ist das Neue, wenn Kinder sich in Als-ob-Spiele vertiefen: Sie betreten allein oder gemeinsam mit anderen eine fiktive Welt und trainieren so ihre Abstraktionsfähigkeit. Außer Zeit und Fantasie brauchen Kinder dazu nicht viel. Denn Spielzeug ist weniger ein Impulsgeber für ein Spiel, als vielmehr eine Gedächtnisstütze, um im Spiel den roten Faden nicht zu verlieren. Albert Einstein hat das so auf den Punkt gebracht: »Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.«
Auf neuronaler Ebene: Welche Eigenschaften des frühkindlichen Gehirns sollten sich unsere Kinder zu Nutze machen dürfen und wie?
Die großen Stirnlappen des Menschen unterscheiden ihn deutlich von seinen nächsten Verwandten, den Bonobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans. Es handelt sich hierbei um den Teil des Nervensystems mit der längsten Evolutionsgeschichte. Auch in der Individualentwicklung des Menschen reifen die Stirnlappen am langsamsten. Die Reifung der vorderen Bereiche des Stirnhirns ist sogar erst mit circa 25 Jahren abgeschlossen. Ein Glück! So bleibt jungen Menschen ausreichend Zeit und Gelegenheit, sich mit der Erfahrung unzähliger Spiel- und Ernstsituation zu einem freundlichen ausgeglichenen Menschen zu entwickeln, der sich in andere einfühlen kann und weiß, was Mitgefühl und Toleranz bedeuten.
Beispiel Fremdsprache: Wie lernen Kinder die am besten? Sollten sie das überhaupt müssen?
Sprache lernen ist mehr als Sprachen lernen. Fremdsprachen sind nur dann interessant, wenn andere Kinder oder interessante Menschen sie im Spiel mit einem Kind benutzen. In der Als-ob-Spielphase entdecken die Kinder die Sprache als »Zauberstab«. Ging es während der Objektphase darum, alltäglichen Dingen den richtigen Namen zuzuordnen, lernen sie nun, einen Bauklotz in ein Auto zu »verzaubern«, einen Teddy wie ein Kind zu bemuttern, kurz: Sie entdecken die kreativen Möglichkeiten der Sprache für sich. Diese Phase wird von der sogenannten »Sprachexplosion« begleitet. Fast alle 90 Minuten lernen die Kinder ein neues Wort. Mit zwei Jahren benutzen sie schon etwa 300 Wörter und verstehen um die 1.000 Wörter. Das lernen sie allein durch Zuhören und Nachahmen von Liedern und Sprachspielen. Wie machen das zwei bis drei Jahre alte Kinder nur, dass sie täglich etwa zehn neue Wörter lernen? Spielerisch reagieren sie erst einmal irgendwie mit Worten – so, wie es ihnen in den Kopf kommt. Dann registrieren sie hochsensibel die Reaktion.
Wie ein Schwamm saugen Kinder in diesem Alter neue Wörter auf (egal, um welche Sprache es sich handelt). Sie lernen beispielsweise ein neues Tier kennen, sehen zum ersten Mal einen Elefanten oder eine Giraffe. Sie fragen: »Was ist das?« und erwarten eine Antwort. Dann sprechen sie das Wort zum ersten Mal unbeholfen nach. Danach bauen sie das Wort geschickt in sinnvolle Sätze ein: »Der Elefant hat mich angeguckt!« So entwickeln sie spielerisch ihr Gefühl für Sprache und bekommen die Grammatik fast von allein in den Griff. Dass sie dabei eigenständig abstrakte Muster bilden, zeigen gelegentliche Fehler. Sie entstehen meistens dann, wenn die Grammatik unregelmäßig ist. Zum Beispiel: »Da liegen die Tellern!« Diese Mehrzahlform ahmen sie nicht einem Erwachsenen nach. Stattdessen wenden sie mit spielerischer Kreativität ein Muster an: eine Gabel, viele Gabeln. Wenn Eltern die Äußerung wiederholen: »Ja richtig, da liegen die Teller«, imitiert das Kind schon bald die richtige Mehrzahlform. Da die Kinder noch kein Regelverständnis haben, ist es müßig, ihnen Regeln zu erklären. Es genügt völlig, wenn Eltern mit den Kindern möglichst viel sprechen, reimen, singen, Bilderbücher anschauen und ihnen vorlesen.
Wenn ich in diesem Zusammenhang „das Beste“ für mein dickes Baby will, was muss ich dann tun und was sollte ich lieber lassen?
Manche Eltern ersparen ihrem Säugling kein Angebot vom Babyschwimmen bis zur musikalischen Früherziehung. Sie hetzen von einem Termin zum nächsten und merken gar nicht, wie ihnen die wertvolle gemeinsame Babyzeit ihnen zwischen den Fingern zerrinnt und der so wichtige stressfreie und spielerische Eltern-Kind-Dialog wegen überfüllter Terminkalender ausfällt. Doch zum Nachholen versäumter Gelegenheiten ist es nie zu spät. Auch im Vorschulalter sind Eltern als Spielgefährten gefragt. Leider gibt es aber diese klassischen Entwicklungstabellen, die sagen, was ein Kind in einem bestimmten Alter können sollte. Dies fördert den kontraproduktiven Entwicklungswettbewerb, dem Kinder leider oft ausgesetzt sind. Eltern erleben ihn beispielsweise, wenn sie auf dem Spielplatz angesprochen werden: »Was, Ihr Kind spricht noch nicht in ganzen Sätzen! Oh, wie alt ist es denn? …« Wenn andere Eltern prahlen: »Montags gehen wir zum Ballettunterricht, dienstags zum Englischkurs, mittwochs zum Geigenunterricht, donnerstags zur Logopädie und freitags zum Feldenkrais «, sollten Sie mit Stolz antworten: »Mein Kind hat die ganze Woche gespielt, mal mit anderen Kindern, mal mit uns und ab und zu auch allein. Es hat sehr viel Spaß am Leben!«
Über Prof. Zimpel:
Dr. André Frank Zimpel ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Er befasst sich mit der geistigen Entwicklung von Kindern unter dem Forschungsschwerpunkt Rehabilitationspsychologische Diagnostik. Seit Anfang 1994 leitet er eine Beratungsstelle für Eltern, Erziehende, Lehrende in pädagogischen Einrichtungen sowie Menschen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten; aus dieser Tätigkeit sind zahlreiche Projekte der Spieldiagnosik und Spielförderung entstanden, die auch zur Überwindung von Lernschwierigkeiten bei Kindern dienen.
Bei mir ist diese „Förderitis“ auch verpönt. Wenn man sich als Vater wirklich Zeit nimmt, scheint man sich ganz instinktiv entsprechend zu verhalten: Das liebevolle und natürliche Fördern in den Vordergrund stellen und sich seiner Rolle als wichtigstes (oder zweitwichtigstes) Vorbild bewusst zu sein.
Ein super Interview, dennoch dürfen wir Eltern nicht vergessen, dass wir der wichtigste Bestandteil “des sozialen Umfeldes” der Kínder sind , welches Dr. Zimpel im Interview erwähnt. Wenn es so ist, bedeutet dies nicht nur die Kínder einfach spielen zu lassen und fertig, sondern, auch wir Eltern müssen über unser Verhalten und unsere Rolle in der Familie aktiv nachdenken.
Ich erinnere mich noch daran, dass Spielen und die Phantasie das schönste als Kind waren. Also gebe ich es meinem Kind weiter und wie man sieht alles richtig gemacht☺ Danke für den tollen Beitrag!
Liebe Grüße
Sina
Matthias ham wa doch jewusst, wa?
Da bin ich ja froh, dass es nun mal eine Untersuchung über die Wichtigkeit des Spiels gibt. Ich mache pro Kind eine Gruppe. Ansonsten wird gespielt – allein oder mit anderen – und raus gegangen. Lg Petra
….KLASSE!!!!
Und weißt du was das Schöne daran ist, Petra? Somit machst du wohl sehr viel richtig!
… Dankeschön!
Ein super Interview, dennoch dürfen wir Eltern nicht vergessen, dass wir der wichtigste Bestandteil „des sozialen Umfeldes“ der Kínder sind , welches Dr. Zimpel im Interview erwähnt. Wenn es so ist, bedeutet dies nicht nur die Kínder einfach spielen zu lassen und fertig, sondern, auch wir Eltern müssen über unser Verhalten und unsere Rolle in der Familie aktiv nachdenken.
Ganz richtig, Professor Zimpel regt an, sich immer mal wieder auf die Ebene der Kinder zu begeben und auch oder gerade im Alltag in ihre Phantasiewelt einzusteigen. Man begegnet ihnen dort auf Augenhöhe (und merkt, wer hier der schnellere, und bessere ist ;-)) und kann dort auch einige potentielle Konflikte („Ich will das haben“) viel leichter entschärfen.