Buchbesprechung: Eine Mama am Rande des Nervenzusammenbruchs von Nina Massek
„Hä?“, sagte der Babyvater und schob mir ein Buch auf dem Tisch rüber. „Erlebe ich jeden zweiten Tag zuhause. Mach du mal lieber. Ich lese eh nur online.“
Diese Geschichte beginnt also mit einer Lüge. Was er eigentlich meinte, war das: Das Lesen an sich ist ja in Zeiten der aktiven Elternschaft eine arg vernachlässigte Kulturtechnik. Dem entgegenstehen Bilderbücher, Radio, selber singen, Aufräumen, Kochen und selber schlafen. Kein Wunder, dass Frau Mutter an den Rand dessen kommt, wenn Sie es schafft, auch noch ein Buch zu schreiben. Ein Richtiges, mit Seiten aus Papier und zum Umblättern. Krassmachdulieber.
Ich gebe zu, dass ich skeptisch war. Denn ob ich „20 wunderbare Flunkereien wissen möchte, die Eltern das Leben erleichtern“*, hatte ich mental schon beantwortet, als Janni „Hä?“ sagte. Lass mich kurz nachdenken, nein, das wollte ich nicht. Aber da es Nina war, die uns ihr Buch schickte, wollte ich natürlich doch.
Warum Lügen mehr verdient haben als den Nikolausauftritt von PapaDoc
Dass man Kinder belügen darf, steht ja fest.
„Doch, finde ich auch gut, Janni“
„Ja, das klappt bestimmt, da liegen wir sicher richtig mit, Lempi“
Ich lüge die Jungs jeden Tag an, den der liebe Gott werden lässt. Und sie wollen das so haben. Es ist höflich und hat so was Optimistisches. Schon ihre Fragen, was ich darüber denke, sind… eh nun ja, der Höflichkeit geschuldet. Diese kleinen Flunkereien halten die Seele gesund und die Moral in der Familien-Truppe in Schwung. Außerdem bedeutet höflich sein, nicht mehr und nicht weniger als…? Naaa? Genau: zu lügen. Und es ist wichtig, höflich zu sein. „Du kannst es tragen, Janni“. „Du hast die Haare schön, Lempi“. Manchmal sage ich aber auch Dinge wie: „Man, da hat der Äfzzeh aber Pech gehabt in der 84. Minute“, während ich mich innerlich ob meiner Schadenfreude ertappt fühle.
„Duhuuu, Thomas? Warst du das gerade, der Nicolaus?“, fragte mich die neunjährige Lilith recht unverblümt. „Nein“, sagte ich mit gespielter Gleichgültigkeit. „Der Marco hat mich gebeten Eis aus dem Kühler zu holen, da habe ich den Nikolausbesuch wohl verpasst.“ Ich hätte auch sagen können: „Lilith, glaubst du wirklich, ich spanne mir ein Kissen um den Bauch, werfe mich in dieses rote Polyacryl-Outfit, setze mir eine Sonnenbrille auf und lege mir eine Auswahl von Julchens Ketten um den Hals, wenn kein Karneval ist?“ Alles wäre besser gewesen als: „Klar, man – aber sag es deiner kleinen Schwester nicht weiter.“
Lügen haben Saison und die ist kürzer als die von Spargel und die muss man nutzen
„Darf man Kinder anlügen?“ lautet der erste Satz des Vorworts. Eine völlig überflüssige Frage, wenn die Kapitel „Das ist keine Praline, sondern eine Kopfschmerztablette“, „Leons Eltern haben kein Telefon mehr, aber du kannst gerne Lena anrufen“ oder „Einzelkinder sind ganz traurige Menschen, die niemanden zum Spielen haben“ heißen. Ninas Buch ist keine reine Ansammlung von Flunkergeschichten und inzwischen ist sie vom Nervenzusammenbruch soweit weg, wie der erste Fußballclub dieser Stadt von einem Torerfolg im eigenen Stadion. Die Lüge ist in diesen Geschichten nur der Kitt, der die Dinge zusammenhält. Gäbe es sie nicht, würde alles in größt möglicher Entropie auseinanderfliegen. Davon berichten diese charmanten, liebenswerten und humorvollen Geschichten aus dem Familienleben der Masseks. Und wahrscheinlich können sich ganz viele Heerscharen von Kinderhabenden anno 2015 in Deutschland darin wiederfinden. Vielleicht nicht die, die das Familienleben, Kinder, Erziehung und Ernährung ideologisch ernst nehmen. Aber vor allem die, die sich mit der unperfekten, anstrengenden und wunderbaren Katastrophe namens Familie arrangiert haben. Sie werden sich bestätigt und rundum verstanden fühlen. Die Nina zum Beispiel kauft gerne ein und hortet die Dinge solange, bis es in Berlin-Zehlendorf zu voll wird. Dann fährt sie zum Wertstoffhof, der für sie Feng Shui ist, weil sie danach – bereinigt und befreit – einfach weitermachen kann wie bisher.
Kommt das irgendjemandem bekannt vor? Wer das mit „Ja“ beantworten kann, ist hier richtig. Ihr Schwiegervater aus Hessen ist übrigens das genaue Gegenteil, der trinkt das Spinatwasser vom Mittag abends als Limo. Auch so kann es laufen. Tut es bei Nina aber nicht. Dann mochte ich den possierlichen Versuch der „Pestalotten-Schule“, die benachbarte Hexennachbarin Frau Müller zu besänftigen. Es sind die komischen Momente im kleinen alltäglichen Scheitern, die in diesem Buch die größte Identität stiften. „Die Fassade der Allwissenheit ist immerhin ein Erziehungswerkzeug, das mir noch nicht abhanden gekommen ist“, heißt es zum Beispiel und man ahnt, dass genau dieser Sachverhalt demnächst köstlich dekonstruiert wird.
Was am Ende bleibt ist in meinen Augen keineswegs die Frage, ob man Kinder anlügen darf. Vielmehr verstehe ich diesen Ansatz im Sinne des von uns hoch geschätzten Professor Zimpel, der im Spiel die beste Schulung von Kindern sieht und das auch beweisen kann. Dazu gehört aber auch ein phantasievoller, spielerischer Umgang der Eltern mit ihren Kindern. Was aus Elternsicht schlichtweg gelogen ist, kann in Kinderaugen durchaus plausibel erscheinen, Dinge erklären, die kleinen Seelchen vor Unbehagen schützen oder dafür Sorge tragen, dass man die kleinen Vögelchen jetzt gerade nicht kaufen kann („Die sind noch zu klein, die hätten woanders sicher Angst“). Die Frage, ob man Kinder anlügen darf, ist damit auch ganz schlüssig beantwortet. Man sollte sogar.
MI