Lehrerbrief: Ein Lehrer über das Bildungssystem

Mein Rant gegen das Deutsche Schulsystem ist nicht überall gut angekommen. Gefühlte 95% der Kommentare stimmten mir zu, etwa 5% haben genörgelt und über meine Elfenbeinrhetorik gelästert. Komischerweise waren alle Kritiker tatsächlich LehrerInnen. Zufall? Ich glaube nicht. Trotz meiner Verteidigung von LehrerInnen, wurden gewisse Punkte persönlich genommen.

Einer dieser Lehrer ist mein Nachbar. Nach meinem Bildungsbash drückte er mich gegen den Bäckertresen bei uns im Familienghetto und las mir die Leviten. Ich stoppte die Attacke und bat ihn einen Text zu schreiben. Nicht aus Nächstenliebe, ich wollte einfach keine aufs Maul bekommen. 🙂 Mein Lehrer hier will anonym bleiben, warum weiß ich auch nicht. Aber so ist unser Bildungssystem halt… Hier ist seine Antwort auf meinen Artikel. Vielen Dank dafür!

In der Blogfamilia-Gesprächsrunde in Kooperation mit dem Bund der freien Waldorfschulen warb Béa Beste für mehr engagierte Lehrer. Wir sollten ihnen Mut machen, um gegen den alten Filz anzukämpfen. Das war die Geburt von #MehrMutfürLehrer. Gerade sie brauchen alle Unterstützung und Motivation, um weiterzumachen. Das Blog Familymag hat zu einer Blogparade aufgerufen und wir sind natürlich dabei!

 


Boah, Babyvater… da hast Du aber mal einen rausgehauen…

Und jetzt sitze ich hier und möchte Dir eine möglichst kurze, klare Antwort schreiben. Aber mit 140 Zeichen komme ich da nicht aus. Wahrscheinlich wird’s ne Zusammenfassung eines kompletten Studiengangs. Das, was Du Dir da wünscht, ist ne Kunst, aber aus Elternsicht total verständlich! Ich möchte gerne versuchen, auf ein paar Stichworte einzugehen.

Vorneweg: Reformstau in System und Ausbildung, Renovierungsstau in den Gebäuden, schlechte Kollegen, Chefs, Vorgaben, störende Eltern, Verbände, Gesetze usw. DAS ist auch Schule. Und dann noch diese Schultoiletten!!! Aber das kennen wir auch aus der Arbeitswelt, warum sollte es in Schule anders sein!?!

In Deinem Artikel möchte ich mich auf folgende Stichpunkte beziehen:

  • Fehlendes Vertrauen
  • normiertes Wissen
  • Umgang mit Diversität
  • sozial-emotionale Entwicklung

Soweit ich das verstehe, gründet sich Dein Misstrauen auf den eigenen schlechten Erfahrungen aus der weiterführenden Schule vor einigen Jahren. Das ist verständlich, aber es hat sich auch was getan in den letzten Jahren. Hat nicht immer allen gefallen, macht nicht alles Sinn, aber es IST anders als damals. Und Grundschule ist nicht Sek I..

Die Zeiten haben sich geändert

Ja, ich kenne mehr Fünfjährige, die drei Jahre in der Schuleingangsphase verbringen, anstatt zwei oder sogar nur ein Jahr. Schuleingangsphase (SEP – für ALLES gibt’s ne Abkürzung)!? Nie gehört? Eine dieser Änderungen, die helfen können. ALLEN Kinder, egal ob fünf, sechs oder sieben Lebensjahre alt, werden die Kenntnisse und Fertigkeiten der Klassen 1 und 2 vermittelt.  Die Schüler können in dieser SEP mindestens ein und maximal drei Jahre verbleiben. Clevere Schulen nutzen dafür „jahrgangsübergreifende Klassen“. Diese SEP ist ein Instrument, das geschaffen wurde, um die Auflösung der Schulkindergärten aufzufangen. Und ich finde es macht Sinn, wird aber nicht immer oder sogar selten richtig genutzt. Angeblich sollten alle Grundschulen mal dazu gebracht werden jahrgangsübergreifend in den Klassen 1 und 2 zu arbeiten, aber die Politik konnte sich nur auf ein „kann“ einigen. …Politik….

In dieser Zeit (SEP) geben Schulen übrigens meistens keine Noten, manche Schulen wirklich erst ab Ende der 3. Klasse. Meistens machen aber Eltern Druck zur Benotung, Pädagogen eher selten, aber die Schulkonferenz muss sich einigen. Elternmitwirkung und Demokratie können also jede Schule ändern…

Normiertes Wissen in der Grundschule? Fehlanzeige

In deinem Blogpost bemängelst Du „normiertes Wissen“. In der Grundschule gibt es dieses fast nicht. Im Lehrplan (findest Du leicht im Internet) findest Du sogenannte „Kompetenzen“, die die Kinder am Ende der Klasse 2 und Ende der Klasse 4 erworben haben sollten. Vielen ist das zu schwammig, vor allem den Eltern. Kompetente Kolleginnen nutzen die Möglichkeiten und Gestaltungsräume für individuelle Freiheit im Lehren und Lernen.

Wo wir auch schon bei der Bildung sind: Lange, lange galt in Deutschland die Grundlage der humanistischen Bildung. Seitdem die Wirtschaft immer mehr Einfluss auf Schule bekommt (Die PISA Studie z.B. wird von der OSZE erstellt, einer Wirtschaftsorganisation. Ich glaub, die haben es nicht so mit Reformpädagogik…) geht es immer mehr darum, fertige Arbeitskräfte hervorzubringen. Kein kreatives Denken, sondern erwerben von Fertigkeiten! Viele Schulen würden sich viel lieber um Bildung kümmern, fürchten aber Probleme zu bekommen, wenn die entsprechenden Abschlüsse und Empfehlungen nicht kommen.

Die Sehnsucht nach neuen Bildungswegen führen auch zur Normierung

Gegen Ende suchst Du nach der Linie, wohin es geht. Ist dies nicht auch eine Normierung? Ist es nicht gut, dass es unterschiedliche Wege und Arten gibt? Das Anspruchsvolle ist nur, dass Eltern jetzt nach der KiTa-Wahl gefragt sind, sich über die Schule zu informieren. Wieder Arbeit für uns Eltern, wogegen meine Eltern mich einfach auf die nächste Schule schicken mussten, da es Schuleinzugsbezirke gab. Durch die Abschaffung dieser Pflicht, wurde einerseits die Wahlfreiheit erhöht andererseits jedoch die Konkurrenz zwischen den Schulen verstärkt. Die Folge? Wo Wettbewerb herrscht, gibt es Verlierer.

Mann, das war schon viel. Jetzt noch Diversität und sozial-emotionale Entwicklung!?!

Meine Antwort auf den Umgang mit Diversität ist die individuelle Förderung und die kompetente Zusammenarbeit verschiedener Professionen in einer Grundschule. Früher arbeiteten an einer Grundschule Grundschullehrerinnen, in Ausnahmen auch ein paar männliche. Die Geschlechterdiskussion könnten wir auch aufmachen, mache ich aber nicht.

Heute arbeiten dort Grundschullehrerinnen, Sozialpädagoginnen, Sonderpädagoginnen und manchmal sogar Schulpsychologinnen (alles immer noch meistens Frauen). Nutzen Grundschulen diese Professionen, klappt’s auch besser mit der Heterogenität.

Die verschiedenen Charaktere dürfen natürlich NIE unterdrückt werden. Introvertierte, extrovertierte, interessierte, unruhige, gelangweilte, müde Menschen etc.. Aber alle sollen sich bitte schön an die gleichen Regeln halten! Auch der fürchterliche „Kevin“.“ Der „Kevin“ mit ADHS, Autismus-Spektrumsstörung, Verhaltensauffälligkeiten…

Und das alles soll EINE Schule schaffen und das perfekt für jedes Kind! 25 bis 30 pro Klasse! Auf normierten Quadratmetern, weil damals ein Klassenraum eben so war. Ups, wieder eine andere Diskussion…

Sozial-emotionale Entwicklung…. ne, ich bin raus und zu müde… lass mich lieber kurz zusammenfassen:

Du vertraust lieber einem Kindergarten, der kompetenzfrei 1 bis 5 Jahre alte Kinder bildet? Okay, mein Tipp: Stell sicher, dass die auch in der zweiten Hälfte des zusätzlichen Jahres einem bildungsreifen Kind genug Futter bieten. Ja, ich meine auch Buchstaben und Zahlen und Lesen und Rechnen, aber auch Entdecken, Erforschen, Vortragen, Aufgaben, Selbständigkeit und ganz viel Spaß haben.

Überforderung versus Unterforderung!

Wer mit fünf Jahren reinkommt, muss nicht nach vier Jahren raus

Grundschulen können die ihnen gebotene Freiräume nutzen, Eltern auch. Du kannst auch sagen: Okay, die Kleine geht, aber ich gebe ihr drei Jahre Zeit. Sie ist ein guter, wertvoller Mensch, auch wenn sie es mal nicht schafft. Nur weil sie mit fünf Jahren da rein geht, muss sie nicht in vier Jahren auch da durch, eben genauso wie in der KiTa. Und: Augen auf die Lehrer: Auch die müssen sie nicht zwangsweise mitziehen! Kompetenzen mit Hilfe älterer Kinder erwerben (wieder so eine pädagogische Überlegung, der wir hier keinen Raum bieten konnten) und eben anders entwickeln als andere Kinder der Klasse. Ist doch okay! Dein Kind ist doch trotzdem ein wertvoller Mensch. Ob sie wiederholt oder sie sich etwas doppelt nimmt: Ist alles eine Frage des Blickwinkels…

Such Dir ne Schule ohne Noten in der Schuleingangsphase mit entsprechenden „interdisziplinären Fachkräften“ wie das so schön heißt. Gibt’s genug.

Schön, dass du dich kümmerst – es gibt Schlimmeres

Und übrigens: Ich finde es gut, dass Du Dir so viele Gedanken machst. Ich erlebe so viele gedankenlose Eltern, so viele Geschichten… da musst Du oft einfach nur lachen, weinen, Kopf schütteln und manchmal gehst Du in den Keller und musst einfach mal schreien wegen so viel Gedankenlosigkeit!

Komm, jetzt noch der Appell mit dem erhobenen Zeigefinger – weil’s so schön ist: Dieses Jahr ist Bundestagswahljahr! Schau mal, wie wichtig Bildung für dieses Land ist und an welcher Stelle diese im Wahlprogramm auftaucht. Schau mal in die letzten Jahre, wie viele von diesen Programmen wirklich umgesetzt wurden. Aber „die Politik“… nein, das mach ich jetzt nicht mehr, „Föderalismusdebatte“ auch nicht… wenn ich könnte, wie ich wollte… ich glaub, ich muss in den Keller… tschö!

LeJeck

Der Autor Janni "Babyvater" Orfanidis gehört zu unserem Stammpersonal und ist einer der Gründer von "Ich Bin Dein Vater". Der gebürtige Kölner ist Ehemann, Kommunikationsberater und Vater von zwei Kindern (2011|2016). Aber ansonsten geht es ihm eigentlich ganz gut.

Eine Antwort

  1. 23. Mai 2017

    […] Letzte Woche haben wir einen Lehrerbrief veröffentlicht, der die Lage unseres Schulsystems aus Sicht eines Lehrers beschreibt. Was gefälschte Akten im Fall Amri mit glaubwürdigen Aussagen eines Betroffenen zu tun haben –  darüber haben wir gesprochen. http://ichbindeinvater.de/lehrer-schule/ […]

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