Grimms Grenzen

Header Blog (5)Keine Frage, die Gebrüder Grimm sind bis heute die wohl besten Content Creators neben Walt Disney, dem Godfather des Storytelling. Disney verdankt seinen Ruhm zu einem großen Teil Grimms Märchen: Dornröschen, Aschenputtel oder Schneewittchen – die Traumfabrik aus Hollywood konnte durch geschickte Adaptionen mit deutschen Geschichten Millionen scheffeln. Apropos Kohle: Meine absolute Buchempfehlung ist das Jubiläumsband von Noel Daniel (Hg.): Die Märchen der Brüder Grimm, im TASCHEN-Verlag, 320 Seiten. Die Illustrationen oben sind allesamt aus diesem Band. Ich habe das Buch von meiner Schwester geschenkt bekommen. Echt top!

Das Eintauchen in fiktive Welten, in Märchengeschichten mit Zauberern, Königssöhnen und Prinzessinnen bedient unsere Abenteuerlust – klein wie groß. Die brutale Gewalt kombiniert mit Happy Ends vom Fließband begleitet uns bis ins hohe Alter. Dennoch gibt es immer wieder Passagen, die mich kopfschüttelnd zurücklassen. Nein, ich rede nicht vom Verzehr von Menschenfleisch (Schneewittchen, Hänsel & Gretel) oder von gelebtem Suizid (Rumpelstilzchen). Ich spreche davon, dass die Phantasie der Grimms da an ihre Grenzen stößt, wo es gilt, Zusammenhänge logisch darzustellen.

Beispiel gefällig? Immer, wenn ich meiner Tochter Dornröschen vorlese (ihr all time favourite), muss ich an einer Stelle stocken. Die böse dreizehnte Zauberin sagt klar verständlich in norddeutschem Dialekt, an einem sonnigen Tag, kurz vor Glockenschlag, den berühmten Satz: „Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Klarer kann man eine Drohung nicht formulieren. 14 Jahre Warnungskarenzzeit. Davon kann die Atomlobby nur träumen! Der König lässt alle Spindeln verbrennen und alle Bewohner müssen 14 Jahre in den gleichen Klamotten rumlaufen. Wachsen und verfetten verboten! Dieses modische Armageddon brachte jedoch nichts! Gar nichts! Das Königspaar hat es nämlich brutal vergeigt. Am fünfzehnten Geburtstag sind die Eltern nämlich gar nicht da. Sie haben besseres zu tun. Diese ignoranteren Eliten. Ich! Ich! Ich! Verdammte Nihilisten! Ich hab‘s immer gesagt, Kalender-Apps machen Sinn. Vor allem, wenn man 14 Jahre Zeit hat, sie zu programmieren. Aber nein, der Papa und sogar die Mama vergessen den wichtigsten Termin ihres Lebens, weil sie kurz shoppen mussten. Mit verheerenden Folgen. Dank der guten zwölften Fee stirbt das schöne Kind nicht. Nein, das gesamte Königreich fällt in einen tiefen Schlaf. Stell dir vor, deine Heimatstadt verpennt ein ganzes Jahrhundert. Marode Straßen, antiquiertes Bildungssystem, traditionelle Rollenverteilungen – gut das ist jetzt nicht wirklich ein Argument. Das Durchleben wir täglich im wachen Zustand. Ich bleibe aber dabei: Hier hätten die Grimms sich mal mehr Gedanken machen können. Das erkannte auch Disney und baute die Geschichte um. Da, wo es konkret wird, stößt die Phantasie der Grimms an ihre Grenzen.

Die Familie als Ort der Sehnsucht – trotz Dönerbude und kaputtem Navi

Hänsel & Gretel ist ein weiteres Beispiel. Der Grimmsche Mutterkomplex wird hier besonders deutlich. Mal wieder manipuliert die böse Stiefmutter den treu liebenden Vater. Trotz des Verrats wollen die Kinder unbedingt zurück zu ihren Eltern. Also, wenn mich jemand zweimal in den Tot schickt, will ich einiges mit diesen Personen anstellen, aber sie bestimmt nicht umarmen. Nun gut, es ist ein Märchen und man sollte nicht alles hinterfragen. Viel schlimmer sind auch hier die Fakten. Drei Tage und zwei Nächte irren die Kids alleine im Wald herum. Die Brotkrümel, die den Weg nach Hause markieren sollten, landeten in den Mägen der vielen tausend Vögel im Wald. Drei Tage vergehen also bis sie die Dönerbude der Hexe entdecken. Wie die Geschichte ausgeht und die Hexe am Spieß schreit kennen wir alle. Aber wie zum Teufel schaffen es Hänsel & Gretel so schnell wieder nach Hause? Zauberwald hin oder her. Wenn es so einfach wäre, hätten sie den Weg doch schon früher finden können. Aber nein, sie müssen erst in Kohle schwimmen, um das innere Navi in Bewegung zu setzen.

Keine Frage: Grimms Märchen sind zeitlos genial und ich liebe sie. Um ehrlich zu sein, habe ich sie so richtig mit meiner Tochter gemeinsam entdeckt. Ich bin mit anderen Märchen groß geworden. Die schöne Eleni oder Odysseus. Die waren ähnlich abgedreht und haben eine weitere Gemeinsamkeit: Auch diese wurden von Hollywood kopiert.

LeJeck

Der Autor Janni "Babyvater" Orfanidis gehört zu unserem Stammpersonal und ist einer der Gründer von "Ich Bin Dein Vater". Der gebürtige Kölner ist Ehemann, Kommunikationsberater und Vater von zwei Kindern (2011|2016). Aber ansonsten geht es ihm eigentlich ganz gut.

5 Antworten

  1. Janine sagt:

    Hi
    Besprochenes Buch zum Streicheln oder fürs ältere Kind und dieses hier zum Vorlesen für Minis:
    https://www.amazon.de/dp/3000490728/ref=wl_it_dp_o_pC_nS_ttl?_encoding=UTF8&colid=30WX7A9B5AGUS&coliid=IGVOA3ICNBXU3
    😉

  2. Agnes sagt:

    Besonders gut hat mir die Stelle mit den Nihilisten gefallen ;D

  3. Cecilia sagt:

    Wunderbarer Artikel. Auch ich habe die Märchen mit meinem Neffen wiederentdeckt, habe mir damals allerdings einige Freiheiten genommen, beim Vorlesen oder Erzählen. Aber Du hast recht, sie sind einfach toll.

  4. Ich meckere ja nur ungern, aber die netten Grimms haben doch nur die Geschichten gesammelt und „geglättet“ 😉 Ausgedacht haben sich das die Leute; oder auch nicht ausgedacht – wer weiß schon, wie viel Wahrheitsgehalt in Gerüchten liegt?

    Gerade bei Hänsel und Gretel empfehle ich übrigens die Änderung, wie in der Oper von Engelbert Humperdinck. Keine böse Stiefmutter, nur eine uninformierte Mutter, die nichts von einer Hexe weiß und die mit ihrem Mann die Kinder auch gleich suchen geht. Finde ich viel sympathischer.

    • Babyvater sagt:

      Ja, du hast vollkommen Recht. Ihre Ursprünge haben die Märchen in jahrtausendealten Sagen und Legenden, seit jeher werden sie mündlich überliefert und erhalten von Erzähler zu Erzähler immer auch eine subjektive Note. Aber das Fass wollte ich jetzt nicht aufmachen…

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