New Model Army, mein Sohn und ich

Ein Gastbeitrag von Arne Ulbricht

1990: Wir – eine Gruppe achtzehnjähriger, langhaariger Jungs – fahren von Kiel nach Hamburg. Denn dort gibt die britische Band New Model Army ein Konzert. The Cure, Sisters of Mercy und vor allem New Model Army, das ist unsere Musik! Das Konzert dauert zweieinhalb Stunden, und wir pogen zu Liedern, die 51st State und Vagabonds heißen, und zu zahlreichen anderen Songs. (Pogo hat übrigens einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Darin findet sich folgende Erklärung: „Grundsätzlich ist der Pogo ein Tanzstil, der auf kurzen und heftigen Körperkontakt (…) ausgerichtet ist.“)

Damals dachten wir, wir seien unbesiegbar und das Zentrum des Universums. Es folgten weitere New-Model-Army-Konzerte, dann verloren wir Jungs uns aus den Augen, heirateten und brachten nach und nach in verschiedenen Städten Kinder zur Welt, ich eins in Hamburg und ein weiteres in Berlin. Auch wegen der Kinder (die letztendlich in Wuppertal aufwuchsen und noch immer aufwachsen) vergaß ich New Model Army. Vor drei Jahren wurde ich dann vollkommen überraschend von einem Kollegen gefragt:
„Hey, hast du Lust, mit zu New Model Army zu kommen? Die spielen jedes Jahr in Köln.“
Ich nickte und geriet, kaum war ich in der Halle, gleich während des ersten Liedes in den ultimativen Pogoflow. Seit diesem Konzert war ich jedes Jahr in Köln.

Wird mein Sohn mein Freund für einen Abend?

2019! Alle Jahre wieder steht der Besuch des New-Model-Army-Konzerts vor der Tür. Und dieses Jahr nehme ich… meinen Sohn mit! Der ist 16, hört eher Rap, hat sich aber eingehört (Kommentar: „Coole Musik!!!“) und dass er Kampfsportler ist, könnte ein Vorteil sein.
Mit den Kindern, die einem entwachsen, ist das ja so eine Sache. Ich selbst habe mich an der Seite einer beruflich erfolgreicheren Frau wahnsinnig viel um meine Kinder gekümmert und ertrage es momentan nicht so gut, dass sie mich nicht mehr wirklich brauchen. Mein Sohn, mit dem ich zum Beispiel insgesamt ca. siebenhundert Stunden lang Lego gebaut habe, der interessiert sich für seine Eltern inzwischen genauso viel, wie ich mich mit sechzehn für meine Eltern interessiert habe. Dafür verstehen wir uns eigentlich super, aber einfach mal etwas wirklich gemeinsam machen? Fehlanzeige. (Mit meiner zwölfjährigen Tochter darf ich manchmal noch Siedler von Catan spielen. Aber nur manchmal.) Ich bin, als wir aufbrechen, so aufgeregt wie damals. Wird es ihm wirklich gefallen? Pogen wir oder schauen wir uns das Spektakel aus sicherer Distanz an? Wird mein Sohn in dieser Situation zum Freund für einen Abend? Trinken wir ein Bier zusammen?

„Wie kommen wir denn nach vorne?“

„Geil!“, sagt mein Sohn, als er das Palladium in Köln betritt.
Eine Riesenhalle, zu diesem Zeitpunkt – die erste Vorband spielt bereits – zu drei Vierteln gefüllt. Vermutlich geht es ihm gerade so wie einem elfjährigen, der zum ersten Mal im Leben ein Spiel seiner Lieblingsmannschaft im Stadion verfolgt.
Während die zweite Vorband spielt, trinken wir ein Bier, das ihm nicht schmeckt, und ich trinke im gesamten Verlauf des Abends nur noch ein weiteres Bier. (Eigentlich trinke ich auf solchen Konzerten mehr.) Auf eine bestimmte Art und Weise ist es also gesünder für mich, mit meinem Sohn unterwegs zu sein. Aber wird es auch genauso lustig?
„Wenn wir vorne tanzen wollen, wie kommen wir denn dahin?“, fragt er.
„Kein Problem! Wir nehmen einen der seitlichen Eingänge und drängeln uns nach vorn, das geht ganz schnell.“
Als die zweite Vorband aufgehört hat, tun wir genau das: Wir nehmen einen der seitlichen Eingänge und bringen uns in Position. Ein Mann mit vier Bechern Bier schiebt sich an uns vorbei.
„Wenn es jetzt losgeht, dann hat er nichts von seinem Bier“, raune ich meinem Sohn zu.
Genau in diesem Moment gehen die Lichter aus… die ersten Akkorde dröhnen durch die Halle und über uns ergießt sich eine Ladung Bier. Das erste Lied ist ein uraltes, klassisches Pogo-Lied. Wir sind sofort vorne drin – mein Plan ist aufgegangen! – und ja, der Körperkontakt ist heftig. Ich suche meinen Sohn, sehe ihn nicht, werde umgestoßen und liege auf dem Boden. Aber das New-Model-Army-Tanz-Volk ist nicht nur aggressiv, sondern eine große Familie und ausgesprochen höflich. Sofort wird ein Kreis gebildet, und wir werden hochgezogen. Aber wo, verdammt noch mal, ist mein Sohn? Zum Glück ist er inzwischen sehr groß, und deshalb finde ich ihn auch. Er „tanzt“ fünf Reihen vor mir. Ich beobachte ihn und denke: „Mist!“ Nicht mal in der ultimativen Tanzschlacht braucht er mich. Er wirft sich immer wieder in die Menge, stößt mit dem Hinterkopf gegen die Nase eines anderen, woraufhin er eine entschuldigende Geste macht, die natürlich mit einem nickenden Lächeln akzeptiert wird. Hin und wieder wirft er mir einen Blick zu, der nur eine Botschaft sendet: „Papa, alles gut!“
Irgendwann kann ich nicht mehr. Meine Jeans klebt an meinem Körper. Alles klebt. Ich ziehe mich ein wenig in eine Art Confort-Zone zurück, wo es ruhiger ist, und sehe, wie einer der alten Skins (nicht zu verwechseln mit Naziskins, eher so die alte, englische Arbeiterklasse, die seit 1980 New Model Army hört) meinem Sohn auf die Schulter klopft.
Dann werfe auch ich mich wieder in die Menge.
Nach fünf Zugaben ist es vorbei.

Früher ging Arne mit seinen Kids auf Bäume – heute auf Rockkonzerte

Ein Moment, den uns keiner nehmen kann

Langsam schlendern wir, Vater und Sohn, zur Straßenbahn, die uns zum Bahnhof bringt. Um zwei Uhr sind wir zu Hause. Auf der Fahrt haben wir uns viel übers Konzert unterhalten. Darüber, bei welchen Liedern es besonders „heftig“ war. Über diese Momente, die man nicht vergisst, weil man mit fünf anderen gleichzeitig gestürzt ist. Darüber, wie sehr uns auch die langsamen Lieder verzückt haben.
Ich habe meinem Sohn etwas aus meiner Jugend geschenkt, und er hat das Geschenk angenommen. Vielleicht ist es gar nicht so übel, den eigenen, pubertierenden Kindern hin und wieder zu zeigen, was einem als Jugendlicher selbst wichtig war. Vielleicht versteht man die Verrücktheiten der eigenen Kinder dann besser, und vielleicht haben die Kinder dadurch auch mehr Vertrauen: Ich habe mich mit meinen Eltern zwar immer gut verstanden. Aber wusste ich, als ich jung war, dass auch meine Eltern mal jung und vielleicht sogar wild gewesen waren? Nein. Schade eigentlich.
Es war ein Wahnsinnsabend, der tief in der Nacht endete. Aber ich bin nicht blöd: Wahrscheinlich wird er im nächsten Jahr lieber mit seinen Freunden auf ein solches Konzert gehen. Das ist mit Sicherheit noch cooler. Sei’s drum. Ich habe diesen Moment mit meinem Sohn gehabt, und das kann man mir nicht mehr nehmen. Wir werden uns und anderen noch lange von diesem Konzert erzählen.

Arne Ulbricht ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Lehrer für Französisch und Geschichte in Teilzeit. Er schreibt schon seit mehr als 20 Jahren und hat nach diversen Büchern für Erwachsene dieses Jahr sein erstes Kinderbuch veröffentlicht. Lest hier unsere Rezension zu Luna, ein Fliegenpilz im Erdbeerkleid.

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Lempi

Der Autor Thomas "Lempi" Lemken ist Papa von zwei Töchtern. Das bedeutet: Als einziger von uns lebt er mit gleich drei Frauen unter einem Dach. Neben seiner Funktion als Leithammel, ist er Gründungsmitglied, Stammautor und Lektor unseres Blogs.

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